Montag, 13. Mai 2013

Leer



[…] Die Aussage „leer“ ist bereits eine Verneinung ihrer selbst. Aber man kann nicht stumm bleiben. Das Problem ist, die Stille mitzuteilen, ohne sie zu verlassen. Aus diesem Grunde vermeidet Zen es soviel wie möglich, Zuflucht zur Sprache zu nehmen, und bemüht sich, uns hinter die Worte dringen zu lassen, damit wir gleichsam – was dort ist – auszugraben. Eckhart tut das unentwegt in seinen Predigten.

Er wählt einige harmlose Worte aus der Bibel und lässt sie ein „Inneres“ aufdecken, das er in seiner unbewussten Bewusstsein erfährt.
 Sein Gedanke liegt keineswegs in den Worten selbst. Er macht sie zu Instrumenten seiner eigenen Absicht.

Auf ähnliche Weise bedient sich der Zen-Meister irgendwelcher Dinge um ihn herum, einschließlich der eigenen Person, irgendwelcher Bäume, Steine, Stöcke u.s.w. Er mag dann laut schreien, schlagen oder Fußtritte austeilen.

Hauptsache es wird klar, was hinter all diesen Handlungen steckt. Um zu zeigen, dass die Wirklichkeit „Leere“ ist, kann er stillstehen mit gefalteten Händen über der Brust. Wenn ihm eine weitere Frage gestellt wird, mag er die Teepflanze schütteln oder wortlos davon gehen oder dem Frager einen Stockhieb versetzen.  

Zuweilen ist der Meister poetischer und vergleicht den Geist der „Leere“ mit dem Mond, nennt ihn den „Geist-Mond“ oder den Mond der So-heit- Ein alter Meister der Zen-Philosophie singt von diesem Mond:
 
 Der Mond ist einsam und vollendet:

Das Licht verschlingt die zehntausend Dinge,

noch dass die Welt der Dinge existiert,

Licht, Welt und Dinge sind dahin,

und das was bleibt – was ist´s?

 Der Meister lässt die Frage offen. Würde sie beantwortet, wäre der Mond nicht mehr da. Wirklichkeit spaltet sich auf, und Leere mündet in Leere.  

Wir sollten die Sicht auf den ursprünglichen Mond nicht verlieren, den uranfänglichen Geist-Mond, und der Meister möchte, dass wir uns auf ihn besinnen, denn bei ihm haben wir begonnen. 

Leere ist nicht leerer Raum, in sich enthält sie unbegrenztes Licht, und alle Vielfalt der Welt nimmt sie in sich auf. 

Die buddhistische Philosophie ist die Philosophie der „Leere“, die Philosophie der Selbst-Identität. Selbst-Identität ist zu unterscheiden von bloßer Identität. 

Bei bloßer Identität gibt es zwei Objekte, die als miteinander identisch festgestellt werden, Bei der Selbst-Identität gibt es nur ein Objekt oder Subjekt, ein einziges, und dieses eine stellt seine Identität fest, indem es aus sich herausgeht.  

Selbst-Identität schließt also Bewegung ein. Und wir stellen fest: Selbst-Identität ist Geist, der aus sich heraus geht, um in sich selbst gespiegelt zu sehen. 

Selbst-Identität ist das logische Substrat reiner Erkenntnis oder von „Leere“.  

In der Selbst-Identität gibt es keinerlei Widersprüche. Die Buddhisten nennen es So-heit. […]

Quelle: D.T. Suzuki, Der westliche und der östliche Weg, Weltperspektiven, 1. Kapitel: Meister Eckhardt und der Buddhismus

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   D.T. Suzuki          Meister Eckhart

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